„Wir haben ein Demokratiedefizit“

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Es geht nicht mehr ohne. Viele politische Entscheidungen müssen heutzutage mit dem Bürger abgesprochen werden, sonst drohen Szenarien wie Stuttgart 21. Auch die EU setzt vermehrt auf Bürgerbeteiligung. Da gebe es aber grundlegende Probleme, erklärt die Abgeordnete der Piratenpartei im EU Parlament, Julia Reda.

MEP Julia Reda (c) Greens/EFA / License: CC
Julia Reda (c) Greens/EFA / License: CC no changes

SCC: „Das Internet ermöglicht prinzipiell eine direktere Beteiligung der Bürger an der Politik. Welche Möglichkeiten sieht die EU denn für direkte Beteiligung vor?“

Reda: „Institutionell gibt es von Seiten der EU bisher relativ wenige Möglichkeiten sich sinnvoll direkt einzubringen. Natürlich gibt es ein paar Beteiligungsinstrumente, wie Petitionen oder die Europäische Bürgerinitiative und zunehmend kann man die auch über das Internet nutzen. Wo es allerdings hapert, ist, dass diese Instrumente dann auch eine Auswirkung garantieren.

Zum Beispiel wurde mit viel ,Tam-Tam‘ die Europäische Bürgerinitiative eingeführt, bei der die Kommission angerufen werden kann, ein Gesetzesverfahren zu starten. Allerdings krankt dieses Instrument daran, dass es keinen Automatismus gibt. Die Kommission ist in keinster Weise gezwungen tatsächlich einen Gesetzesvorschlag vorzulegen, selbst wenn die Bürgerinitiative erfolgreich war.

In der Praxis ist es dann oft auch so gelaufen. Das führt natürlich schnell zu einem gewissen Abnutzungseffekt. Gerade bei der europäischen Bürgerinitiative hat die Zahl der neuen Initiativen abgenommen, weil die Leute merken, dass dieses Instrument nicht wirklich mehr Beteiligung garantiert.“

Ausbau von Beteiligung heißt Abgabe von Kontrolle

SCC: „Viele Entscheidungen lassen sich gar nicht mehr machen, ohne dass Bürger mitreden oder mitreden wollen. Plant die EU dieser Entwicklung gerecht zu werden?“

Reda: „Ja. Natürlich wird diese Kritik jetzt bei der Europäischen Bürgerinitiative angebracht und ich setze mich auch im Parlament dafür ein, dass dieses Instrument ausgebaut wird. Allerdings ist jeder Ausbau von Beteiligung gleichzeitig eine Abgabe von Kontrolle, besonders für die Europäische Kommission, die bisher weitgehend das alleinige Initiativrecht hatte. Und deshalb gibt es dagegen auch politische Widerstände.

Allerdings glaube ich, dass es langfristig gesehen schon im Interesse der Politik ist, solche Beteiligungsmöglichkeiten auszubauen, weil die Leute andernfalls das Gefühl haben, dass ihre Stimme eh nicht ausschlaggebend ist und sich von der Politik abwenden.“

SCC: „Fürchtet man sich in der EU vor den Bürgern?“

Reda: „Ja, das kann schon sein. Es gibt sicherlich eine gewisse Angst vor der EU-Skepsis. Dass sich das auch gegen die EU als Projekt wenden kann, wenn man den Menschen zu viele direkte Entscheidungsmöglichkeiten gibt. Aber ich glaube, dass das Problem nicht kleiner wird, wenn man es vor sich herschiebt. Letzten Endes führt ja gerade das Gefühl das Politik weit weg ist zu dieser Frustration. Insofern darf man sich von dieser Befürchtung auch nicht abschrecken lassen und muss den Leuten zeigen, dass sie auch unmittelbare Verbesserungen in ihrem Alltag durch Europa erreichen können.“

Der Bürger soll nicht alles entscheiden

SCC: „Es gibt Online-Plattformen, die partizipative Entscheidungsfindung noch fundamentaler praktizieren. Da geht es nicht nur darum, wie Menschen zu einer vorgegebenen Antwort abstimmen, also mit ja oder nein. Stattdessen werden Ideen und Lösungen schon von Anfang an in der Kollektive gemeinsam entwickelt. Wäre das auf EU-Ebene erstrebenswert?“

Reda: „Ja absolut. Viele Piratenparteien praktizieren das mit Liquid Democracy und ich glaube, dass der Prozess gemeinsamen Erarbeitens auch viel mehr Chancen birgt als das bloße Abstimmen über das Internet. Man kann die letztendlichen Entscheidungen nicht einfach auf die Masse abwälzen, ohne auch Wege zu schaffen, die Diskussion zu führen.

Die Frage ist natürlich, was davon sinnvolle Anwendungsfälle sind. Ich denke die Erarbeitung von Gesetzesinitiativen wäre eben ein sinnvoller Anwendungsfall. Die ist im Moment ausschließliches Privileg der europäischen Kommission. Selbst das europäische Parlament ist nicht in der Lage, eigene Gesetzesvorschläge vorzulegen. Und da haben wir sicher ein Demokratiedefizit. Da braucht einerseits das Parlament mehr Macht aber eben auch die Menschen direkt sollten die Möglichkeit bekommen, zumindest Gesetzgebungsverfahren in Gang zu bringen.“

SCC: „Sollte der Bürger in Zukunft alles entscheiden?“

Reda: „Naja, streng genommen tut er das ja schon. Die Frage ist natürlich, wie das organisiert wird. Aber die Idee der Demokratie ist, dass letzten Endes jede Entscheidung auf die Menschen zurückgeführt werden können muss. Da haben wir ja sicherlich viel Verbesserungsbedarf in der Europäischen Union.

Es sollte sicher nicht über alles direkt im Internet abgestimmt werden. Das halte ich für relativ unrealistisch, weil Politik halt doch ein Vollzeitjob ist und wenn jetzt jeder mitmachen und unmittelbar über alles abstimmen kann, dann wäre das Ergebnis, dass letzten Endes Entscheidungen von denen getroffen werden, die besonders viel Zeit und Geld haben. Insofern hat die repräsentative Demokratie schon ihren Platz. Aber wir können trotzdem viel mehr tun, um den Leuten Politik auch verständlich zu machen und ihnen Einflussmöglichkeiten an die Hand zu geben.“

„Kommunikation nicht nur mit Menschen da draußen“

SCC: „Welche Rolle spielen Wortmeldungen von EU-Bürgern in deinem Alltag?“

Reda: „Eine ziemlich große, würde ich sagen. Für den Bericht, den ich zur Urheberrechtsreform  verfasst habe, habe ich mich nicht nur im Vorfeld mit vielen Interessensgruppen getroffen, sondern den Text unmittelbar Online auf Dicuto zur Diskussion gestellt. Was da rauskommt und was mir Leute über Social Media an Hinweisen schicken, nimmt Einzug in meinen Arbeitsalltag. Aber letzten Endes ist meine große Aufgabe als Abgeordnete nicht in den Ausschuss zu gehen und meine Stimme abzugeben, sondern viel ist ja auch das Diskutieren und Überzeugen. Insofern glaube ich, tue ich auch der Bevölkerung einen Gefallen, wenn meine gesamte Kommunikation nicht nur mit den Menschen da draußen stattfindet, sondern auch mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Parlament.“

Julia Reda vetritt die Piratenpartei im europäischen Parlament. Sie ist Vorsitzende der jungen Piraten Europa und stellvertrentende Fraktionsvorsitzende der EU-Fraktion Grüne/Europäische freie Allianz.

Foto Titel: (c) Tobias M. Eckrich/ changes: size

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